Michael Hauke: Julian Aicher, Sie sind Neffe von Hans und Sophie Scholl. Viele Straßen und Plätze, aber auch Schulen tragen den Namen Ihres Onkels und Ihrer Tante. Seit 15 Monaten sind viele Grund- und Freiheitsrechte eingeschränkt bzw. abgeschafft. Sie halten viele Vorträge zum Widerstand im Nationalsozialismus. Was sagen Sie den Menschen von heute? Sollten Sie sich in der aktuellen Situation wieder auf die Geschwister Scholl und deren Ideale der Freiheit besinnen?

Julian Aicher: Ich kannte Hans und Sophie nicht persönlich. Als ich 1958 zur Welt kam, waren sie schon 15 Jahre tot. Aber über ihre Ideale haben mir meine Eltern viel erzählt. Da ging es politisch um die Freiheit. Also um das, was schon in der Französischen Revolution auf den Fahnen stand. Und auch bei der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, aber auch – und das sage ich mit meinem regionalen Bezug auf Schwaben – auf die aufständischen Bauern im Jahr 1525 in Memmingen. Die Grundrechte sind das Fundament allen Zusammenlebens. So wurde es mir x-mal gesagt. Wenn man Grundrechte einfach abschafft, stimmt etwas nicht!

Michael Hauke: Seit dem 28. März letzten Jahres gibt es die sogenannte epidemische Lage von nationaler Tragweite und damit die stärksten Grundrechtseinschränkungen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Gerade ist der Notstand noch einmal bis zum 30. September verlängert worden, also bis nach den Bundestagswahlen. Hätten Sie es für möglich gehalten, dass das „Fundament allen Zusammenlebens“, wie Sie sagen, für so lange Zeit eingeschränkt wird?

Julian Aicher: Nein, das hätte ich nie gedacht! Dass Maßnahmen, wie eine durchgehende Maskenpflicht und Ausgangssperren, in einem demokratischen Rechtsstaat durchgesetzt werden können, hätte ich vor anderthalb Jahren für unmöglich gehalten. Das Paradoxe ist doch, dass die Parteien, die die DDR – zu Recht – einen Unrechtsstaat genannt haben, heute selbst massiv in die Grundrechte der Bürger eingreifen. Der Kabarettist Uwe Steimle hat dazu viele wichtige Sachen gesagt. Überhaupt können wir „Wessis“ viel vom Osten lernen. In Ostdeutschland hat man wohl ein stärkeres Gespür für Unrecht und einen übergriffigen Staat. Die Grundrechte sind Grundvoraussetzung der Demokratie. Sie müssen sofort wieder hergestellt werden! Die Menschen müssen sich frei versammeln dürfen, ob zu privaten Feiern oder politischen Demonstrationen. Ohne jede Einschränkung!

Michael Hauke: Ihre Familie hat eine große Tradition im Widerstand gegen Unrecht und Diktatur. Sie selbst nennen das „lange Linien“. Ihr Onkel Hans und Ihre Tante Sophie Scholl waren im Widerstand gegen die Nazi-Diktatur. Ihre Mutter Inge Aicher-Scholl engagierte sich schon 1963 stark gegen die Notstandsgesetze und hat dann die ersten Ostermärsche mit organisiert. Hätten Sie mit mehr Widerstand gerechnet, als vor 15 Monaten die Grundrechte abgeschafft wurden und in der Folge das Infektionsschutzgesetz immer weiter verschärft wurde?

Julian Aicher: Der Protest zeigt sich vielfältig. Da gibt es die vielen dezentralen Demonstrationen und Kundgebungen, die kleinen und die großen Aktionen. Jede Woche sind ja Tausende auf der Straße. Denken Sie auch an die Kinderschuhe vor den Rathäusern, an die weißen Rosen vor den Gerichten. Und dann gibt es den ganz privaten Widerstand, wo sich Menschen trotz Ausgangs- und Kontaktsperren getroffen und versucht haben, ihr normales Leben so weit wie möglich aufrecht zu erhalten. Widerstand gibt es nicht nur auf großen Grundrechts-Demonstrationen, sondern im Garten und hinter verschlossenen Türen. Ich vermute sogar, dass die Politik nicht mit so viel Protest gerechnet hat. Klar – es ist nicht derselbe Widerstand wie der Widerstand gegen die Nazis. Aber auch heute geht es um Grundrechte. Um Grundrechte, um unsere Demokratie zu schützen. Und uns selbst!  Jetzt tun die Herrschenden so, als ob die Maßnahmen beendet würden. Aber niemand sollte sich wundern, wenn es im Herbst – nach den Bundestagswahlen – mit voller Wucht weitergeht.

Michael Hauke: Ein Geschichtslehrer hat mir gegenüber vor kurzem betont, dass es in der Geschichte noch niemals vorgekommen sei, dass einmal erlangte Macht von den Herrschenden freiwillig wieder abgegeben wurde…

Julian Aicher: Ich befürchte: Da hat Ihr Lehrer Recht! Wenn die Bürger keinen Widerstand leisten, wird sich die Situation nicht ändern, sondern noch verschärfen. Freiheit bekommt man nicht einfach so zurück. Man muss etwas für seine Freiheit tun! Bereits zum Jahreswechsel 2019/20, als von Corona offiziell noch nicht die Rede war, sagte mir ein CDU-Politiker, dass es nicht angehe, dass Bürger einfach gegen den Staat prozessieren und protestieren könnten, hier müsse sich zügig etwas ändern. Und beim Weltwirtschaftsforum ist es ja nachlesbar: Über eine Geschichte wie Corona will man die Leute an die Kandare nehmen. Man muss es deutlich sagen: Es geht nicht vorrangig um Gesundheitsschutz, es geht um unsere Freiheit! Es geht um unsere Grundrechte!

Michael Hauke: Nun heißt es immer wieder, dass die ganze Welt mitmache und eben nicht nur Deutschland…

Julian Aicher: Das versuchen zwar viele in Zeitungen, Radio- und Fernsehsendungen zu behaupten. Doch ist das wirklich überall so? Schauen Sie nach Afrika, dort gibt es seit 15 Monaten Staaten ohne jede Maßnahme, Tansania zum Beispiel. Schauen Sie in die USA. Darüber haben Sie ja selbst mehrere Artikel geschrieben: Viele Bundesstaaten sind aus den Maßnahmen komplett wieder ausgestiegen. Aber auch in Russland und großen Teilen Osteuropas kennt man das, was hier passiert ist, nicht im Ansatz. Das betrifft also bei weitem nicht die ganze Welt. In Deutschland wird es wohl radikal durchgezogen, weil die letzten hundert Jahre gezeigt haben, dass man hier so etwas sehr gut umsetzen kann.

Michael Hauke: Die Globalisierung halten Sie also in diesem Punkt für gescheitert?

Julian Aicher: Nicht nur in diesem Punkt. Es fällt doch auf, dass viele Leute in der Krise genau das Gegenteil von Globalisierung tun: Sie greifen auf die eigenen Ressourcen zurück. Sie wissen, dass ich mich für Wasserkraft stark mache. Ich habe da meine vielfältigen Erfahrungen gemacht. Der Staat – auch oder gerade unser grün regiertes Baden-Württemberg, wo ich lebe – versucht, die dezentralen erneuerbaren Energien zu behindern. Wenn die Leute anfangen, dezentral Energie zu erzeugen, wird es schwer. Kommen die Erneuerbaren aber von den großen Konzernen, sieht das Spiel ganz anders aus. Auch die regionale Versorgung mit Lebensmitteln nimmt immer mehr zu. Und auf die Reaktion der unfassbar starken Zensur bei Facebook, YouTube, Instagram usw. schreibt manch einer dann eben auch wieder eine Postkarte oder einen Brief. Oder man spricht direkt miteinander. Etwa bei Waldspaziergängen.

Michael Hauke: Sie deuten die Zensur in den elektronischen Medien an, wo nicht nur journalistische Beiträge gelöscht werden, sondern ganze Kanäle entfernt werden, wenn Sie dem herrschenden Narrativ der Pandemie widersprechen. Viele renommierte Mediziner und Wissenschaftler sind Opfer dieser Maßnahmen im Netz geworden. Sie selbst sind Ihres Amtes als Pressesprecher der „AG Wasserkraftwerke Baden-Württemberg“ enthoben worden, weil Sie auf einer Grundrechts-Demonstration gesprochen haben. Kann man in Deutschland seine Meinung noch bedenkenlos äußern?

Julian Aicher: Ich bin tatsächlich meines Amtes enthoben worden. Der Vorstand des Wasserkraftverbandes ist CDU-dominiert. Mir wurden zwei Dinge vorgeworfen: Einmal, dass ich am 8. Mai 2020 Polizisten am Rande einer Grundrechts-Demonstration weiße Rosen überreicht habe und dass ich einen Artikel auf den „Nachdenkseiten“ veröffentlicht habe. Dieses Portal wird von Albrecht Müller betrieben, einem ehemaligen Mitarbeiter von Willy Brandt. Das hat ausgereicht. Man kann seine Meinung nicht immer frei äußern. Aber ich stelle mir die Frage, ob das jemals wirklich anders war. Was etwa jetzt bei YouTube passiert, kommt mir schon besonders krass vor. 

Michael Hauke: Sie haben gemeinsam mit Nachkommen von Widerständlern des 20. Juli um Graf Stauffenberg einen Brief zur Meinungsfreiheit an Claudia Roth geschrieben. Warum ausgerechnet an sie und was stand drin?

Julian Aicher: Gemeinsam mit Berthold Goerdeler, dem Enkel des ehemaligen Leipziger Oberbürgermeisters. Goerdeler sollte nach dem Stauffenberg-Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 ja Kanzler werden. Mit Berthold Goerdeler habe ich an Frau Roth geschrieben. Und auch zusammen mit einem weiteren Nachfahren der 20.-Juli-Aufständischen, nämlich mit Peter Finckh. Sein Vater wurde 1944 in Plötzensee erhängt.  Da sich Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth  für Grundrechte in Aserbaidschan, Armenien oder Weißrussland einsetzt, haben wir sie mit der Grundrechtssituation in Deutschland konfrontiert. Hier werden friedliche Demonstranten für das Grundgesetz (!) von der Polizei geschlagen und abgeführt. Hier sind viele Grundrechte, wie die Allgemeine Handlungsfreiheit, die Unverletzlichkeit der Wohnung, die Freizügigkeit, die Versammlungsfreiheit, die Berufsfreiheit oder das Recht der Eigentumsgarantie seit Monaten eingeschränkt oder aufgehoben.

Michael Hauke: Was hat Frau Roth Ihnen, Berthold Goerdeler und Peter Finckh geantwortet?

Julian Aicher: Ihre Antwort war sehr kurz, sie hat eher abgewiegelt. Zu der eigentlichen Problematik hat sie nicht wirklich Stellung bezogen. Claudia Roth meinte, die Grundrechte seien erst wieder alle in Kraft, wenn das, was sie „Pandemie“ nennt, vorbei sei.

Michael Hauke: Ihr Antrieb ist die Sorge um Freiheit, Demokratie und unsere Grundrechte. Was sollte Ihrer Meinung nach getan werden?

Julian Aicher: Viele Leute haben Angst und machen deshalb mit. Sie haben Angst vor den Konsequenzen, wenn sie abweichen. Es müssen mehr Personen gezeigt werden, die ihre Angst überwunden haben. Im fünften Flugblatt der Weißen Rose um Hans und Sophie Scholl hieß es: „Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, der um Euer Herz gelegt – entscheidet Euch, ehe es zu spät ist!“ Damit wäre dann der Anfang gemacht.